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Nawal El Saadawi: “Religion ist eine politische Ideologie!”

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Sie ist eine freie Stimme Ägyptens, eine weltweit beachtete Schriftstellerin und eine unermüdliche Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte: Nawal El Saadawi nimmt in Straßburg am ersten internationalen Weltforum für Demokratie teil, am 11. Oktober trafen Annette Gerlach und Evelyne Herber sie dort zum Interview. Kurz vor ihrem 82. Geburtstag und trotz Jetlag, blitzen ihre braunen Augen unternehmungslustig, hellwach lauert sie auf unsere Fragen.

Die Audio-Files stehen in der englischen Originalfassung zur Verfügung.

ARTE Journal: Ist Ägypten, eineinhalb Jahre nach dem Sturz Mubaraks, auf dem Weg zu einer Demokratie?


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Nawal El Saadawi, Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin: Wir reden hier über Demokratie, aber was genau meinen wir mit Demokratie? Für uns ist das ein sehr vager Ausdruck. In der arabischen Sprache gibt es kein Wort für Demokratie, aber eines für Frieden. Während der arabische Revolution demonstrierten wir auf dem Tahrir Platz gegen Mubarak und für Frieden, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle. Ohne Unterscheidung nach Geschlecht, Klasse oder Religion. 20 Millionen Menschen waren auf der Straße, wir schliefen in Zelten, im Januar und Februar. Wir haben nicht Demokratie gefordert, sonder Frieden, Gerechtigkeit und Würde für alle.
Es gibt Demokratien ohne Gleichheit und mit Ungerechtigkeit, ohne Würde und mit Krieg und Kapitalismus und Kolonialismus und Patriarchat. Es gibt Demokratien mit patriarchalischen, kapitalistischen und militärischen Systemen. Darum ist es mir so wichtig, mit dem Wort Demokratie ganz genau umzugehen. Die ägyptische Revolution war großartig. Ich war eine derjenigen, die nachts in den Zelten draußen geschlafen haben, um das System zu ändern.

Arte Journal: Und wie beurteilen Sie die Entwicklung seit der Revolution?


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Nawal El Saadawi: Was ist passiert, warum ist aus der Revolution eine Fehlgeburt geworden? Wer hat die Revolution zu Fall gebracht? Zwei Kräfte. Mubarak gab es nicht mehr. Wer hat Mubarak unterstützt? Die Vereinigten Staaten. Sie gaben Milliarden von Dollar an die Armee, durch die sogenannte USAID. Sie haben das Militär und das System korrumpiert. US-Dollar dienen oft der Korruption. Dieses korrupte System haben wir überwunden. Aber was passierte dann? Die Kräfte, die Mubarak unterstützt haben, wollten verhindern, dass die Revolution gelingt. Also haben sie zusammengearbeitet. Wer hat zusammengearbeitet? Die Vereinigten Saaten und die Muslimbrüderschaft! Sie sehen den Widerspruch: Die USA und die Muslimbrüderschaft haben Hand in Hand gearbeitet, haben gemeinsam verhandelt um auf den Zug der Revolution aufzuspringen und ihn zu stoppen. Mit zwei Dingen haben sie die Revolution sinnentleert: Erstens mit zu früh stattfindenden Wahlen. Das Land blutet, Menschen wurden erschossen, starben, junge Menschen verloren ihre Augen und ihr Leben. Dennoch kam Hillary Clinton nach Kairo und forderte Wahlen, denn Wahlen abzuhalten bedeutet Demokratie.

“Die Wahlen kamen zu früh”

Aber Wahlen sind nicht mit Demokratie gleichzusetzen. Es reicht nicht, nur an einem Urnengang teilzunehmen. Erst muss das System verändert werden, es muss fairer werden, gerechter, gleichberechtigter, humaner, echter Frieden und wahre Demokratie. Aber das war nicht in ihrem Interesse. Teile und herrsche. Sie haben uns mit den Wahlen gespalten. In dem Augenblick, in dem die Wahlen in Ägypten ausgerufen wurden, begannen die Menschen uneins zu werden und begannen zu konkurrieren. Wettbewerb, Blut ,Gewalt, mit Bestechungsgeldern gekaufte Wahlen, alle Formen von Korruption. Wir waren noch nicht bereit für diesen Urnengang. Diese zu früh abgehaltenen Wahlen haben die Revolution zu Fall gebracht. Revolution ist ein kreativer, spontaner Prozess, aber anschließend muss man zur Ruhe kommen und organisieren. Dazu haben sie uns keine Zeit gelassen. Die USA und die Muslimbrüderschaft. Sie haben einen Pakt geschlossen. Und die Muslimbrüder sind jetzt an der Macht. Sie sagen: Wir kamen durch Wahlen an die Macht. Aber es waren keine freien Wahlen.

ARTE Journal : Am kommenden Freitag ist eine Demonstration gegen den Verfassungsentwurf in Kairo angekündigt, es geht vor allem um Artikel 36 : der Text soll die Rechte und Pflichten der Frauen regeln, sofern diese nicht „den Vorschriften der Scharia widersprechen“. Ihre Reaktion.


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Nawal El Saadawi: Seit und auch schon vor der Revolution schreibe ich genau zu diesem Thema. Die Verfassung ist in keinster Weise fair. Und zwar in jedem Land. Ich spreche nicht nur von Ägypten oder dem Islam. Ich spreche von dieser in der ganzen Welt verbreiteten Krankheit. Denn wir leben in einer Welt. Nicht in drei Welten, in einer Welt! Und die ist von einer Krankheit befallen. Wissen Sie, ich bin Ärztin und keine Politikerin. Es drängt mich diese Krankheit in der Welt, im System zu diagnostizieren. Die Scharia ist ein Teil davon. Die Religion ist ein Teil davon. Religion ist eine politische Ideologie. Religion ist kein moralischer Code. Religion ist von Menschen gemacht, von Männern. Patriarchat, Rassen, Klassen: das alles findet man in der Religion. Sie haben ein Verfassungskomitee ohne Frauen gebildet! (lacht) Ohne Frauen! Und jetzt haben sie diesen Scharia Artikel entworfen. Wir sagen: Unser Land sollte nicht eine Religion haben, sondern ein Land für alle sein, für Christen und Muslime, für Männer und Frauen. Aber die Muslimbrüderschaft, unterstützt von den Vereinigten Staaten, will das nicht. In Europa weiß man das nicht genug. In Europa denkt man, die USA würden gegen Islamismus, gegen Islamisierung kämpfen. Ich erinnere oft daran: Bin Laden und George Bush sind Zwillinge.

“Frauen sollten überall vertreten sein”
Am 4. Oktober gab es schon eine große Mobilisation der Frauen. Wir demonstrierten unter dem Motto: Die Hälfte der Ägypter sind Frauen! Wir müssen überall die Hälfte stellen, in der Regierung, im Parlament, in der Gesellschaft. Frauen sollten überall zu 50% vertreten sein. Und das ohne den Einfluss der Religion, eine klare Trennung von Staat und Religion. Wie ich schon sagte, wir leben in einer Welt. Ägypten gehört zu Europa und gehört zu den USA. Wir leben zusammen. Das globale ist lokal, wir nennen es ‘glocal’ , das bringt uns zusammen. Ich hoffe, dass die Demonstration vom Freitag ein Erfolg werden wird. Ich hoffe es. Aber sie werden es nicht zulassen. Denn die Macht ist enorm. Die USA wollen Ägypten nicht verlieren, wegen Israel.

ARTE Journal: Wo muss man ansetzten, um das zu ändern?


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Nawal El Saadawi: Damit, die Geister zu entfesseln. Erziehung und Bildung. Demokratie beginnt in der Kindheit, zu Hause. Demokratie ist keine Parlamentsentscheidung. Die trifft man an einem Tag. Aber Demokratie ist eine ganze Lebenseinstellung. Schon als Kind muss man dazu erzogen werden, zu Respekt und Gleichstellung. Mit Bruder und Schwester, mit den Hausangestellten. Die humanistischen Werte müssen von Kindesbeinen an gelernt werden. Aber das System ist krank und ungerecht. Es gibt Unterdrückung auf Grund des Geschlechtes, auf Grund der Klasse. Und die Kinder sind diesen sehr schlechten, undemokratischen Werten von früh an ausgesetzt. Und so können sie nicht plötzlich demokratisch sein, wenn sie wählen gehen. Es ist ein langwieriger Prozess, man muss die Kinder zum Respekt der Gleichberechtigung erziehen, so dass es ihnen ins Blut übergeht. Aber das passiert nicht. Das Erziehungssystem dient dem politischen Syste

ARTE Journal: Es gab Gerüchte, sie könnten Literaturnobelpreisträgerin werden. Ein Kommentar?


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Nawal El Saadawi: Gerüchte… (lacht) Ich habe nichts für Gerüchte übrig. Wenn es um Gerechtigkeit geht, hätte ich diese Auszeichnung vor 30 Jahren verdient. Ich habe 47 Bücher geschrieben, übersetzt in mehr als 30 Sprachen, die in der ganzen Welt gelesen werden. Meine Bücher haben das Leben von 5 Generationen verändert, in Ägypten, in der arabischen Welt und in anderen Ländern. Selbst in den Vereinigten Staaten. Ich unterrichte dort, und zwar nicht Schüler, sondern Lehrer. Und diese Lehrer haben mir gesagt, meine Bücher hätten ihr Leben verändert. Darum kommen sie in meine Seminare.

Annette Gerlach – Evelyne Herber für ARTE Journal

Foto: Marie Thiery
Foto oben: Council of Europe



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